Ist der Kreml beim Einlenken im Ukraine-Krieg schon weiter, als manche ahnen? In westlichen Medien gebe es viele "Enten", also Falschmeldungen, so Kreml-Sprecher Dmitri Peskow, der damit allerdings keine klare Antwort auf die Frage gab, ob es hinter den Kulissen wirklich vertrauliche Kontakte zwischen der russischen Regierung und dem US-Sicherheitsberater Jake Sullivan gibt, wie im "Wallstreet Journal" zu lesen war. Das seien "Spekulationen", meinte Peskow.
Immerhin bestätigte er ausdrücklich, dass Russland für Verhandlungen "offen" bleibe. Und Oleg Jewtuschenko, der mächtige Chef des russischen Staatskonzerns Rostec, zeigte sich zeitgleich überzeugt, dass Russlands Beziehungen mit dem Westen schon wieder besser würden, das könne allerdings "zwanzig bis dreißig Jahre" dauern. Bis dahin werde der High-Tech-Konzern Rostec Probleme haben, wichtige Teile für seine Produkte, vor allem Mikrochips, zu importieren.
Im russischen Fachblatt "Global Affairs" behauptet der Politologe Wlad Iwanenko allen Ernstes, Putin habe sich ohnehin "keine Vorteile vom Krieg" erwartet und hätte ihn gerne vermieden, "wenn es möglich gewesen wäre". Solche Propaganda-Lügen sollen wohl den Weg bereiten für eine baldige, gesichtswahrende Verständigung. Der stellvertretende Außenminister Andrej Rudenko sagte, Russland sei jederzeit bereit, mit der Ukraine zu verhandeln: "Es gibt keine Vorbedingungen von unserer Seite, außer der Hauptbedingung – dass die Ukraine guten Willen zeigt."
Putin will "Feedback" bekommen
Wladimir Putin kündigte unterdessen bei einem Besuch in der Region Twer an, demnächst "persönlich" mit den Angehörigen von Mobilisierten zu sprechen, um "Feedback zu bekommen". Seinen Angaben zufolge befinden sich bereits rund 80.000 einberufene Soldaten im Kampfgebiet. Wann das Treffen mit Vertretern der Betroffenen stattfindet, dazu wollte sein Sprecher Dmitri Peskow noch keine genauen Angaben machen. Hintergrund dieser Ankündigung sind wohl Berichte, wonach bereits Hunderte von Mobilisierten gefallen sind und das Versprechen nicht eingehalten wurde, alle Eingezogenen vor ihren Kampfeinsätzen gründlich vorzubereiten und auszurüsten. Ukrainische Propaganda-Medien präsentieren täglich gefangene russische Soldaten, die behaupten, von ihren Kommandeuren "im Stich gelassen" worden zu sein.
Obendrein sinkt einer Umfrage zufolge die Zahl der Unterstützer des Krieges in Russland, wenn auch nicht dramatisch. So sollen im September nur noch 16 Prozent der Befragten zur "Kriegspartei" gehört haben, zuvor sollen es 25 Prozent gewesen sein. Gleichzeitig stieg die Zahl der Friedensbefürworter von 23 auf 27 Prozent. Offizielle, vom Kreml in Auftrag gegebene Umfragen ergeben allerdings regelmäßig Zustimmungswerte zwischen 70 und 80 Prozent.
Kreml liefert Argumente für Cherson-Rückzug
Das gewöhnlich gut unterrichtete, im Ausland veröffentlichte Portal "Meduza" will jetzt zwei Dokumente aus dem Kreml erhalten haben, in denen Hinweise für russische Medien enthalten sein sollen, wie sie den demnächst erwarteten Abzug aus Cherson der Öffentlichkeit erklären können. Politisch wäre der Vorgang für Putin äußerst heikel, denn die Region wurde nach einer fingierten "Volksabstimmung" offiziell Russland einverleibt. Moskau gelobte, Cherson "niemals" wieder aufzugeben. Jetzt zitiert "Meduza" aus den Unterlagen, für die russischen Soldaten sei die Lage vor Ort "extrem schwierig", weil die Ukraine alle ihre Kräfte konzentriere, um nicht zu riskieren, die westliche Unterstützung zu verlieren.
Der Gegner plane geradezu ein "Blutbad". Die russischen Truppen versuchten dagegen, "das Leben von Zivilisten und Personal zu retten", so die vom Kreml gewünschte Lesart. Wegen der "Gefahr eines massiven Angriffs" habe die Zivilbevölkerung bereits evakuiert werden müssen. Die russischen Truppen könnten überdies förmlich "weggespült" werden, falls die Ukraine einen Staudamm sprenge. Dass diese Rückzugs-Propaganda bei kremltreuen Bloggern schon auf fruchtbaren Boden fällt, zeigt die Aufforderung eines Putin-Fans mit 250.000 Abonnenten, es sei "nicht die beste Entscheidung, den Kampf zu den Bedingungen des Feindes aufzunehmen". Eines der "wichtigsten Prinzipien" des Angriffskriegs sei doch die "maximale Rettung von Menschenleben" - eine in der Tat bizarre Argumentation.
Ein anderer "Patriot" und Militärexperte schrieb warnend: "Es versteht sich von selbst, dass es besser ist, nach den ersten Erfolgen eine übermäßige Euphorie zu vermeiden, damit Sie sich später nicht wundern, warum der Angriff auf die nächste Festung ins Stocken gerät oder sich nicht so schnell entwickelt, wie man es gerne hätte."
Erinnerung an Schlacht von Poltawa
Der Rückzug aus Cherson sei "wahrscheinlich", wenn auch nicht "wünschenswert", heißt es angeblich im Handbuch der russischen Regierungskreise. Dort wird auf die Schlacht von Poltawa am 8. Juli 1709 verwiesen, wo Zar Peter der Große die Schweden besiegte, nachdem er einige Jahre zuvor noch eine derbe Niederlage kassiert hatte und sich tief ins Landesinnere zurückziehen musste. Der Sieg in Poltawa sei im Nordischen Krieg ein "Wendepunkt" gewesen, so der Kreml, der damit wohl nahelegen will, wie "segensreich" vorherige Rückzüge sein können. Möglicherweise ist das alles aber auch nur Desinformation, so "Meduza", weil der Kreml Zeit gewinnen wolle, eine neue Großoffensive im Winter vorzubereiten.
Gerüchte um Beruhigung der "Ultra-Patrioten"
Gleichzeitig behauptet ein Telegram-Portal mit besten Verbindungen in den Kreml, Putin sei seit zwei Tagen damit beschäftigt, eine "Ausstiegsstrategie" aus dem Ukraine-Krieg zu entwickeln. Demnach machte Putin-Kumpel und Oligarch Juri Kowaltschuk den Vorschlag, den besonders martialischen "Ultra-Patrioten" um den Söldnerführer Jewgeni Prigoschin ("Gruppe Wagner") bei vorgezogenen Wahlen eine angemessene Vertretung im Parlament anzubieten. Von dort aus könnten diese Kreise Putin besser vor Attacken enttäuschter Nationalisten schützen. Auch hier wäre die Argumentation, Russland habe sich nur deshalb zurückgezogen, um "später" umso rabiater zuzuschlagen. Sollte es Rechtsextreme geben, die sich darauf nicht einlassen wollten, könnten sie immer noch als "Verräter und Provokateure" gebrandmarkt werden. Bis zum 10. November solle geprüft werden, ob die politische Einbindung der Patrioten ein gangbarer Weg wäre.
"Gespenst der Niederlage über dem Kreml"
Mit Blick auf die Geschehnisse in Cherson äußert der britische Kriegsforscher Lawrence Freedman im Fachblatt "New Statesman", es müsse wohl noch mehr passieren, bis Putin wirklich an einen Waffenstillstand denke: "Man hätte hoffen können, dass die Häufung schlechter Nachrichten von der Front Putins Entschlossenheit schwächen und ihn veranlassen würde, realistischer über Friedensabkommen zu diskutieren." Auch das Kleinbeigeben im jüngsten Streit um das Getreideabkommen mit der Ukraine habe gezeigt, dass Putin wisse, "wie er einen Rückzieher macht". Derzeit gehe es für den russischen Präsident nicht mehr darum, zu "gewinnen", allerdings wolle er auf keinen Fall "verlieren".
Putin werde es schwerfallen, die "Initiative zu ergreifen", solange er die Wut der Nationalisten fürchten müsse: "Den Ereignissen auf dem Schlachtfeld ihren Lauf zu lassen, birgt für Putin allerdings ganz eigene Gefahren. Das Gespenst der Niederlage wird über dem Kreml schweben. Der Entscheidungsprozess wird zunehmend blockiert und die Frustration in der Elite wächst. Potenzielle Nachfolger werden um Positionen ringen. Das Militär wird gefangen sein zwischen der Notwendigkeit, Kräfte zu schonen und strategische Positionen nicht aufzugeben, zwischen einem System, das Erfolg fordert, aber nicht in der Lage ist, die notwendigen Ressourcen bereitzustellen."
Im Angesicht "krasser Entscheidungen" könne Moskau bei sich "plötzlich ein ernsthaftes Interesse an Verhandlungen entdecken". Bis dahin bleibe Kiew jedoch nichts anderes übrig, als mit westlicher Unterstützung seine Bemühungen um die Rückeroberung seines Territoriums so lange fortzusetzen, bis ein Punkt erreicht sei, an dem eine russische Niederlage nicht mehr geleugnet werden könne.
"Nicht unnötig provozieren"
Im US-Fachblatt "Foreign Affairs" schreibt Experte Dan Reiter derweil, dass ein Scheitern von Putin im Ukraine-Krieg nicht gleichbedeutend sein müsse mit einer allgemeinen Katastrophe oder gar dem Einsatz von Atomwaffen. Der Mann sei ja "nur verzweifelt, nicht irre". Der Westen könne sein "Panik-Niveau" runterdimmen: "Die Vereinigten Staaten sollten sich nicht von übertriebenen Ängsten vor verzweifeltem Handeln [Putins] davon abbringen lassen, nationale Interessen voranzutreiben. Die Feinde des Westens wollen manchmal Verzweiflung oder Wahnsinn vortäuschen, um ihn durch Angst zu lähmen. Kommen wir ihnen dabei nicht entgegen!"
Mit Hinweis darauf, dass schon häufiger Atommächte Kriege gegen Länder verloren haben, die keine Kernwaffen hatten, bemerkt Dan Reiter: "Selbst abscheuliche Regime werden manchmal durch moralische Erwägungen eingeschränkt." Im Übrigen habe sich gezeigt, dass Staatsmänner unter Druck nur dann zum "Äußersten" gingen, wenn es eine logisch begründete Chance gibt, den Krieg dadurch tatsächlich noch umkehren zu können. Das sei in Russland nicht der Fall: "Genauso wie die Vereinigten Staaten darauf achten sollten, nicht unnötig zu provozieren oder einen Vorwand für eine russische Eskalation zu liefern, besteht auch keine Notwendigkeit, Frieden um jeden Preis zu suchen."
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